Unbewusste Prozesse und der Einfluss des CharaktersWie können wir ungesundes Verhalten nachhaltig ändern?Serie Forschen und Verstehen
23. Mai 2024, von Anna Priebe
Foto: UHH/Vogiatzis
Warum fällt es manchen Menschen leichter als anderen, sich mehr zu bewegen oder das Rauchen aufzugeben? Und wie kann man diese meist unbewussten Unterschiede bei Gesundheitsprogrammen berücksichtigen? Das untersucht Prof. Dr. Mirko Wegner, Professor für Gesundheitswissenschaft an der Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft.
Ihre Forschung beschäftigt sich mit Selbststeuerungsunterschieden. Was kann man sich darunter vorstellen?
Selbststeuerung ist immer dann gefragt, wenn uns Dinge und Situationen nicht so leichtfallen. Zum Beispiel ist das konzentrierte und strukturierte Lernen vor einer Klausur für viele nicht einfach. Die Selbststeuerung beschreibt innere Strategien, um mit den Herausforderungen umzugehen, etwa das Handy wegzulegen, um beim Lernen nicht gestört zu werden. Diese Prozesse sind auch entscheidend, wenn wir ungesundes Verhalten nachhaltig ändern wollen und sie sind daher Schwerpunkt unserer Arbeit.
Und dabei vor allem die Unterschiede, die sich aus den sogenannten Motiven eines Menschen ergeben, etwa dem Anschluss- oder dem Leistungsmotiv. Was verbirgt sich dahinter?
Was uns leicht oder schwer fällt, womit wir uns wohl fühlen und wie wir eine Situation wahrnehmen, hängt stark von unserer Persönlichkeit ab und sogenannten Motiven, die diese mit beeinflussen. Wir unterscheiden zum Beispiel das Leistungs-, das Macht- und das Anschlussmotiv.
Für Menschen mit Machtmotiv ist es wichtig und erfüllend, auf andere Menschen zu wirken und Einfluss zu nehmen. Diese Personen fühlen sich etwa in Führungspositionen wohl. Aber auch ein Musiker oder eine Musikerin können ein Machtmotiv haben, wenn es ihnen darum geht, mit Songs das Publikum zu bewegen.
Menschen mit Leistungsmotiv sind dagegen sehr ehrgeizig, wollen sich stetig verbessern und Erfolg haben. Sich zum Lernen für eine Klausur zu entschließen, könnte ihnen leichter fallen, weil es ihr prägendes Motiv befriedigt. Sie können sich besser an diese Situation anpassen, als zum Beispiel jemand mit hohem Anschlussmotiv.
Auf dem Anschlussmotiv liegt Ihr Fokus, oder?
Genau. Für diese Persönlichkeitsprägung ist soziale Bindung wichtig, also ein guter Kontakt zu anderen Menschen, viele soziale Interaktionen, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Jemand mit diesem Motiv kann sich schwerer tun, das Lernen für die Klausur über das Treffen mit dem Freundkreis zu stellen.
Der Kern des Anschlussmotives ist dabei nicht so sehr an einem messbaren Ziel orientiert wie bei den anderen Motiven. Es geht hier vielmehr um Prozesse: Personen mit einem hohen Anschlussmotiv empfinden Freude, wenn sie sich mit Menschen umgeben, die sie gerne mögen. Das ist auch das, was uns besonders interessiert.
Diese Interaktionen müssen nämlich nicht unbedingt eine Funktion haben oder einem Ziel dienen. Jemand mit ausgeprägtem Anschlussmotiv würde zum Beispiel nicht auf die Idee kommen, eine Freundin zu fragen, ob sie zum Joggen mitkommt, um sich selbst aufzuraffen. Das würde als Instrumentalisierung der Beziehung empfunden werden.
Menschen mit Anschlussmotiv zu einer Verhaltensänderungen zu bewegen, funktioniert also anders als bei Menschen mit anderen Motiven?
Ja. Wir gehen davon aus, dass die beschriebenen Motive automatisch dazu führen, dass es ganz verschiedene Arten der Selbststeuerung gibt. Menschen mit hoher Anschlussmotivation fragen zum Beispiel nicht: Wie kann ich dieses oder jenes Ziel erreichen? Sie interessiert, ob sie sich aktuell in ihrem Umfeld wohlfühlen. Und sie sind in stressigen Situationen sehr gut darin, die eigenen Interessen und Bedürfnisse zu erkennen und auf sie einzugehen. Sie tauschen sich auch mehr mit anderen Leuten aus, wenn sie in einer Belastungssituation sind. Diese Präferenzen und Prozesse zu verstehen, kann uns helfen, diese Menschen besser anzusprechen – insbesondere, wenn es um Gesundheitsförderung geht.
Hat jeder Mensch denn nur ein Motiv?
Nein. Die drei beschriebenen Motive können unabhängig voneinander unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Es ist möglich, dass eine Person nur stark ausprägtes Motiv besitzt oder eben zwei oder drei Motive gleichzeitig stark ausgeprägt sind. Wir wissen, dass ein Motiv im jungen Kindesalter geprägt wird und über die Lebensspanne sehr stabil ist.
Wir wissen, dass ein Motiv über die Lebensspanne sehr stabil ist
Wie erforschen Sie solche unbewussten Prozesse?
Die Selbststeuerung kann durch Fragebögen untersucht, bei denen die Teilnehmenden die Beschreibung einer Herausforderung sowie einer Reaktionsmöglichkeit erhalten – und dann auf einer Skala bewerten müssen, inwieweit das geschilderte Verhalten ihnen entspricht. Es gibt aber auch experimentelle Ansätze, um beispielsweise Selbstkontrolle zu untersuchen.
Für die Messung der Motive verwendet man klassischerweise Bildvorlagen. Man zeigt den Teilnehmenden Bilder, auf den Personen zu sehen sind. Die Probandinnen und Probanden erhalten dazu keinerlei Kontext und müssen schriftlich Fragen zu dem Bild beantworten: Was machen die dargestellten Personen, wie ist es zu der Situation gekommen, was ist das Ziel dieser Personen und in welchem Verhältnis stehen die gezeigten Personen zueinander?
Es ist also die persönliche Interpretation der Teilnehmenden, in die ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit sozialen Situationen einfließen. Wir analysieren die Antworten dann inhaltlich zum Beispiel mit automatisierten Codier-Verfahren. Das heißt, es gibt bestimmte Formulierungen und Begrifflichkeiten, die auf das eine oder andere Motiv hindeuten. Bei der Auswertung kommen auch Methoden der künstlichen Intelligenz zum Einsatz.
Und dann führen Sie die Ergebnisse der beiden Tests zusammen?
Ja, wir haben aktuell beispielsweise Daten einer großen Untersuchung mit mehr als 5.000 Teilnehmenden analysiert, bei denen die Motivwerte sowie verschiedene Maße von Selbststeuerungskompetenzen vorlagen. In diesem Datensatz konnten wir zeigen, dass die geschilderten systematischen Unterschiede zwischen Menschen mit einem hohen Anschlussmotiv und Personen mit einem hohen Macht- oder Leistungsmotiv vorlagen.
In einer weiteren Studie haben wir zusätzlich die Gruppe von Teilnehmenden mit einer sehr hohen Anschlussmotivation genauer untersucht und aus den Bildbeschreibungen motivspezifische Selbststeuerungsprozesse extrahiert. Wenn die getestete Person auf dem Bild zum Beispiel eine Konfliktsituation beschreibt und erklärt, wie sie sich aus der eigenen Sicht entwickeln wird, ist das besonders wertvoll, weil dies einen Einblick in den Ausdruck der eigenen Selbststeuerungsprozesse erlaubt, der nicht durch gezielte Fragen beeinflusst ist. Wir sprechen hier von einer nicht vorgebahnten oder nicht-respondenten Reaktion. Auf Basis dieser Forschung haben wir dann standardisierte Fragebögen zur Selbststeuerung weiterentwickelt und zum Beispiel in den Fragen auch soziale Situationen integriert. So wollen wir besser abbilden, was anschlussmotivierte Menschen regulativ machen.
Was sind weitere Anwendungsmöglichkeiten Ihrer Arbeit?
Aus Forschungsprojekten wissen wir, dass das Anschlussmotiv an sich gesundheitsförderlich zu sein scheint. Menschen mit diesem Motiv zeigen etwa eine höhere Herz-Kreislauf-Gesundheit und eine stärkere Immunaktivität als Menschen mit Machtmotiv. Gleichzeitig arbeiten Personen mit Anschlussmotiv sehr oft in sozialen Berufen, zum Beispiel in der Pflege. Hier besteht eine große Gefahr der Überlastung und durch die Schichtarbeit ist der Lebensstil häufig ungesund.
Die klassischen Interventionsmöglichkeiten in diesen Bereichen sind bisher sehr ziel- und selbstzentriert. Wir möchten unsere Forschung in neue Ansätze übertragen, um hier erfolgreich Präventionsarbeit leisten zu können. Es kann zum Beispiel helfen, mehr zu kontextualisieren und sich nicht nur auf das Ziel zu fokussieren, sondern auch auf den Prozess, der zur Erreichung führen soll. Das könnte unter anderem heißen, dass man für Menschen mit hoher Anschlussmotiv die soziale Interaktion von Tätigkeiten besonders betont und Gesundheitsverhaltensveränderungen dann ein Beiprodukt dieses Prozesses sind.
Das ist auch die gesellschaftliche Implikation unserer Forschung. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der Erfolg in Schule, Beruf und Leben hohe Werte sind. Aber was ist mit Leuten, die eine hohe Anschlussmotivation haben und denen solche Dinge und diese Zielorientierung gar nicht wichtig sind? Wir möchten ihnen einen gesellschaftlichen Zugang sichern, etwa durch die entsprechende Gestaltung des Schulunterrichts.
Das Projekt
Prof. Dr. Mirko Wegner forscht seit 2022 an der Universität Hamburg. Gemeinsam mit seinem Team um Postdoktorandin Dr. Ariane Marion-Jetten und Doktorand Ludwig Piesch erforscht er motivspezifische Selbststeuerungsprozesse. Dabei kooperieren sie unter anderem mit Prof. Dr. Nicola Baumann von der Universität Trier. Die aktuellen Vorstudien haben das Ziel, einen Förderantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu stellen. Das Vorhaben wurde auch gefördert mit Mitteln aus vom Ideen- und Risikofonds der Universität Hamburg, der im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder geschaffen wurde. Im nächsten Schritt soll mithilfe von Experimenten untersucht werden, ob und wie konkrete Ziele bei Menschen mit Anschlussmotiv körperlichen Stress auslösen.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.