Neurodiversität und Neurodivergenz„Die radikale Individualität des Gehirns wird gerade erst entdeckt“
4. August 2025, von Claudia Sewig

Foto: UHH/Esfandiari
Menschen im Autismusspektrum, mit ADHS oder mit Epilepsie sind neurodivergent. Das bedeutet: Ihre Gehirnfunktionen unterscheiden sich deutlich von dem, was in unserer Gesellschaft als „normal“ definiert ist. Prof. Dr. André Frank Zimpel leitet das Zentrum für Neurodiversitätsforschung an der Universität Hamburg und gibt im Interview einen Überblick über den aktuellen Kenntnisstand.
Die Begriffe Neurodiversität und Neurodivergenz hört und liest man in letzter Zeit immer häufiger. Doch was genau versteht man darunter?
Man könnte es mit neuronaler, also „nervlicher“ Vielfalt übersetzen. Aber das ist natürlich sehr unpoetisch. Deshalb vergleiche ich Gehirne gerne mit Schneeflocken – die sehen auch von Weitem alle gleich aus, aber unter dem Mikroskop sieht man dann, dass sie alle unterschiedlich sind. Neurodiversität ist eine naturwissenschaftlich belegte Tatsache und bezieht sich auf alle Menschen. Als neurodivergent gelesen werden einzelne Personen, wenn deren Nervensystem jenseits von Alltagserwartungen, neurotypischen Standards und Neuronormen funktioniert.
Die Neurowissenschaften treten gerade in eine neue Phase ein, in der sie die radikale Individualität des menschlichen Gehirns entdecken. Zur Veranschaulichung: Nach letzten Zählungen haben wir Menschen 86 Milliarden Nervenzellen. Jede dieser Nervenzellen geht 1000 bis 10.000 Verbindungen mit anderen Nervenzellen ein, wobei jede Nervenzelle bereits so kompliziert ist wie eine ganze Stadt. In einem Kubikmillimeter Gehirn sind etwa so viele Nervenverbindungen, wie die Milchstraße Sterne hat. Darum ist es unmöglich, dass zwei Menschen über dasselbe Gehirn verfügen. Selbst eineiige Zwillinge haben total unterschiedliche Gehirne. Dazu kommt, dass das Gehirn ein Sozialorgan ist, also auch durch soziale Interaktionen und nicht nur genetisch geformt wird.
Was hat sich die Evolution bei so einem gewaltigen Organ gedacht?
Vielleicht war es ein Unfall durch eine Ernährungsumstellung. Irgendwann haben unsere Vorfahren angefangen zu kochen. Da konnten sie dann plötzlich mit so einem großen Gehirn überleben. Vorher hätten sie dieses Organ nicht satt bekommen, also nicht mit genug Energie versorgen können.
Dass kein Gehirn dem anderen Gehirn gleicht: Ist das eher ein Nachteil oder eine Chance?
Ich sehe eher die Chance, aber ich sehe zugleich auch die radikale Überforderung darin. Man sieht das bei Kindern im Alter von bis zu drei Jahren: Diese haben noch keine sogenannte Theory of mind entwickelt, das heißt, sie gehen davon aus, dass alles, was sie wissen und empfinden, auch alle andere wissen und empfinden. An dieser Theory of mind, die wir im Alter von drei bis vier Jahren entwickeln, arbeiten wir das gesamte Leben. Einige neurodivergente Personen, das sind Personen im Autismusspektrum, Personen mit Epilepsie oder auch Narkolepsie oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, entwickeln diese Theory of mind später. Sie haben daher aus Sicht anderer nicht altersgerechte Probleme. Dass ihr Nervensystem nicht dem Standard entspricht, kann zu einem Teufelskreis führen, dass diese Menschen ausgegrenzt werden, etwa von Bildung. Das haben wir leider heute immer noch. Daher brauchen wir die Begriffe der Neurodivergenz oder Neurodiversität, um zu zeigen, dass es nicht gerecht ist, wenn wir die gleichen Bedingungen für alle schaffen. Sondern dass wir manchen Menschen einen Nachteilsausgleich einräumen müssen, um gerechte Anfangsbedingungen für alle zu schaffen.
Gab es einen Anlass, warum das Thema derzeit so präsent ist?
Ich glaube, dass es durch die Entwicklung und den Einsatz von KI bedingt ist, weil wir dadurch über Intelligenz neu nachdenken. Ein Schock für Viele war sicherlich die aktuelle Hattie-Studie, die gezeigt hat, dass es Wichtigeres als Intelligenz gibt. Sie gilt als wichtigste Metastudie von Bildung überhaupt und kommt auf 138 Einflussgrößen für den Bildungserfolg eines Kindes. Auf Platz zwei liegt laut der Studie die kognitive Entwicklung, also die Intelligenz. Aber auf Platz 1 liegt die Selbsteinschätzung! Der größte Faktor für den Bildungserfolg ist also, wenn ich weiß, wie mein Gehirn tickt. Ich bin mir sicher, dass nichts in dieser Zeit so wichtig ist wie dieses Wissen. Dadurch hat sich auch die Rolle von Bildungseinrichtungen wie Vorschulen, Schulen und Universitäten total geändert.
Inwiefern?
Das sind heute keine Orte des Wissens mehr, sondern das Wissensmonopol ist gebrochen. Wir kommen an Wissen heute zu jederzeit und überall über das Internet heran. In dieser Zeit ist Intelligenz ganz schön, aber wichtiger ist die Selbsteinschätzung – also zu wissen, was kann ich selbst, und wo hole ich mir lieber Hilfe. Menschen interessieren sich jetzt auch mehr dafür, wie sie ticken. Und es ist für viele Menschen befreiend, sich nicht ständig tarnen zu müssen, wenn sie neurologisch anders sind als die Norm. Das KI-Zeitalter untermauert dieses, denn es zeigt, dass Intelligenz kein Privileg von Menschen ist. Das Gedächtnis haben uns die Bücher abgenommen, die Intelligenz nimmt uns die KI ab.
Und was bleibt für uns?
Ich würde behaupten: die Selbsteinschätzung. Die kommende Gesellschaft wird eine Gesellschaft sein mit einem Überschuss an Kontrolle. Frei nach Laotse: ‚Wer andere kontrolliert, ist mächtig. Und wer sich selbst kontrolliert, ist unbezwingbar‘. Ich glaube, dass Menschen gerade lernen, dass sie mehr auf sich selbst geworfen sind und anfangen, sich mehr für sich selbst zu interessieren. Ich glaube, das ist eine neue Form von menschlicher Intelligenz. Mit dem Buchdruck hat die Ausgrenzung neurodivergenter Menschen ihren Anfang gefunden, und sie findet jetzt ihr Ende.
Braucht diese Entwicklung eine andere Form von Lehre in Schulen und Universitäten?
Ja, unbedingt. Auch wenn Vorlesungen und Seminare immer noch ein beliebtes Format sind. Jetzt kommt aber die gemeinsame Nutzung von Medien hinzu. In dieser dritten Form drängen sich Maschinen mit Intelligenz und Gedächtnis dazwischen. Sie gehören in die Schulen und Universitäten – aber wir müssen sie, vor allem Social Media und KI, unter Kontrolle bringen. Hierbei können neurodivergente Menschen ihre besonderen Fähigkeiten gut einsetzen, denn wir brauchen hierfür Menschen mit besonderer Aufmerksamkeit, die anders auf die Dinge schauen.
Gibt es Untersuchungen, wie viele Menschen neurodivergent sind?
Es gibt grobe Annahmen, dass jede siebte Person neurodivergent ist. Aber das kann man nur schätzen.
Sind Bildungseinrichtungen darauf eingestellt, auf diese Menschen einzugehen?
Nein. Sie sind oftmals noch überfordert. Gerade die aktuelle Generation Z will partizipieren und mitgestalten, tauscht sich offen untereinander aus und nimmt alle mit. Das finde ich eine gute Entwicklung. Studierende sind heute rücksichtsvoller, es entsteht gerade ein neues Miteinander – zumindest an unserer Uni beobachte ich das. Die Uni ist aber immer die Zone der nächsten Entwicklung der gesamten Gesellschaft.
Wie wünschen Sie sich die Bildungseinrichtungen der Zukunft?
Neuro-inklusiver, das heißt, dass die Bildungseinrichtungen auf Menschen mit ADHS, auf Menschen im Autismusspektrum, mit Epilepsie, mit Tourette-Syndrom vorbereitet sind und Nachteilsausgleiche bereithalten, die passen. Wir haben hierfür noch viel zu wenig Forschung, die zeigt, wie Nachteilsausgleiche – etwa längere Bearbeitungszeiten für Klausuren – greifen. Bei gehörlosen Studierenden zum Beispiel haben wir durch Gebärdendolmetscher hier einen guten Weg gefunden. Aber neurodivergente Menschen sind hier oft noch außen vor.
In welchem Zusammenhang stehen Intelligenz und Neurodivergenz?
Neurodivergenz verändert die Aufmerksamkeit. Das Scharnier Aufmerksamkeit liegt zwischen Genen und Intelligenz. Sie haben nicht weniger Intelligenz, sie können nur nicht barrierefrei an Intelligenztests teilnehmen. Was wir geistige Behinderung oder Lernbehinderung nennen, hat damit oft ganz andere Ursachen. Wir sehen oft nur die Oberfläche.
An welchen Aspekten forschen Sie konkret?
Mich interessiert vor allem der Aufmerksamkeitsumfang von Menschen im Autismusspektrum. Dazu haben wir die erste Promotion erfolgreich abgeschlossen, zwei weitere folgen. Aber wir sind jetzt schon dabei, auch zu schauen, wie überhaupt die drei Aufmerksamkeitssysteme des Gehirns mit Neurodivergenz zusammenhängen. Das alarmierende Aufmerksamkeitssystem etwa mit Sitz im Stammhirn steuert die Wachheit. Dieses ist bei Menschen im Autismusspektrum oft sehr aktiv, was bedeutet, dass sie mit Überraschungen schwer umgehen können. Bei Menschen mit ADHS ist es genau umgekehrt: Sie leiden unter monotonem Stress und werden ganz schnell müde, wenn etwas zu gleichförmig abläuft. Sie werden daher oftmals als reizoffen bezeichnet.
Zur Person
Prof. Dr. André Frank Zimpel arbeitet als Professor mit dem Schwerpunkt „Lernen und Entwicklung“ an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und leitet das Zentrum für Neurodiversitätsforschung. Der Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Sonder- und Diplompädagoge mit den Fächern Mathematik und Kunst steht im August 2025 40 Jahre im Hochschuldienst. Zum Thema Neurodivergenz hat er bereits eine sehr anschauliche „Vorlesung für alle“ gehalten, die man im Video nachsehen kann. Sein neues Buch „Wahnsinnig intelligent: Die verborgenen Potenziale neurodivergenter Menschen“ ist gerade erschienen; am 30. Oktober folgt eine „Vorlesung für alle“ von ihm zu dem Thema.
