CeNak-Wissenschaftler an internationalem Genomikprojekt beteiligtVon Vögeln und ihrer Verwandtschaft
12. November 2020, von Anna Priebe
Foto: UHH/CeNak, Tietze
Die spezifischen Erbinformationen aller Vogelarten dokumentieren – das ist das Ziel eines internationalen Forschungsprojektes. Dr. Dieter Thomas Tietze, Leiter der Abteilung Ornithologie am Centrum für Naturkunde, spricht über die Methoden des Projekts sowie die Rolle wissenschaftlicher Sammlungen.
Gerade wurde eine Publikation aus dem Projekt „Bird 10,000 Genomes (B10K)“, an dem Sie beteiligt sind, im Fachmagazin Nature veröffentlicht. Worum geht es bei dieser internationalen Forschungskooperation?
Unser Ziel ist es, von den mehr als 10.000 Vogelarten, die wir kennen, die Genome zu entschlüsseln und zu veröffentlichen. Das Genom ist die Gesamtheit aller Erbinformationen eines Lebewesens und für jede Ordnung, Familie und Art charakteristisch. Wir wollen so einen Teil des Baums des Lebens rekonstruieren und schauen, wie die Vögel miteinander verwandt sind.
Die Genome der 40 Vogelordnungen – zum Beispiel Sperlings-, Enten- und Hühnervögel –, wurden schon in der ersten Projektphase erstellt. Jetzt haben wir für die nächste systematische Ebene, die Familien, Genome sequenziert und analysiert. In der Ordnung der Sperlingsvögel gibt es zum Beispiel die Familie der Krähenverwandten, deren Mitglieder alle bestimmte genetische Informationen gemeinsam haben. Wir vergleichen jetzt 363 Genome fast aller Familien, wobei 267 Genome im Rahmen dieser zweiten Projektphase neu erstellt wurden.
Verwandtschaftsverhältnisse hat man ja auch bisher schon erforscht. Was ist das Besondere an diesem Projekt?
Artbestimmung fand früher zumeist auf Basis äußerer Merkmale statt, allerdings sehen sich Vögel nahverwandter Arten oft zum Verwechseln ähnlich. In den vergangenen Jahrzehnten wurden auch schon kürzere Gensequenzen untersucht. Dieses Projekt unternimmt aber den Versuch, das gesamte Genom zu sequenzieren, also etwa eine Milliarde Buchstaben, die sich bei jedem Vogel etwas unterscheiden.
Das Problem dabei: Bisher waren es vielleicht 500 bis 50.000 Buchstaben, die man mithilfe ausgefeilter Algorithmen zur Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse verwendet hat. Wenn man aber versuchen will, eine Milliarde Buchstaben zu bearbeiten, dann reicht jegliche verfügbare Rechnerkapazität nicht aus. Man muss also den Datensatz wieder klug reduzieren.
Sie bringen in das Projekt auch Material aus der wissenschaftlichen Sammlung des Centrums für Naturkunde ein. Wie arbeiten Sie mit den Objekten?
Es ist ein weltweites Projekt, bei dem ich aus meinem Fundus genauso Proben einbringe wie die Kolleginnen und Kollegen aus Dänemark oder China. Man muss allerdings sagen: Für modernste genomische Analysen muss das Material des Tieres so frisch wie möglich sein, indem man etwa einen Vogel einfängt und ihm eine Blutprobe entnimmt oder einen verunfallten Vogel zeitnah einfriert.
In unserer Sammlung in Hamburg gehen die Objekte bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Aus Haut und Knochen kann man nur unter erschwerten Bedingungen Gensequenzen gewinnen. Allerdings haben wir am Centrum für Naturkunde für mehr als 100 Arten oder Unterarten das sogenannte Typenmaterial, d. h. die Individuen, anhand derer sie beschrieben wurden. Dieses Material kann man beproben und zumindest kürzere Sequenzen mit entsprechenden Sequenzen im Gesamtgenom vergleichen.
Momentan tragen wir übrigens schon für die nächsten Stufen, also die Gattungs- und die Artebene, das Material zusammen. Das wird aber sicherlich sehr lange dauern, denn von manchen Arten gibt es tatsächlich nur ein Exemplar, das 50 bis 200 Jahre alt ist und irgendwo im Museum liegt.
Welche Fragen kann man neben der Artverwandtschaft noch mit den Genomen beantworten?
Man wird nie genau sagen können, wie viele Vogelarten es gibt. Denn es ist eher eine philosophische Frage, wo man die Grenze zieht. Aber für den Artenschutz zum Beispiel braucht man genaue Festlegungen: Man kann ja nicht schützen, was nicht definiert ist.
Der Stammbaum ist aber auch nur der erste Schritt. Der nächste wäre zu schauen: Kann man aus diesen Genomsequenzen verstehen, warum der eine Vogel groß und der andere klein ist, warum der eine sich weit ausbreitet und der andere nicht oder warum der eine singen lernen kann und der andere nur die Laute von sich gibt, die er ererbt hat? Mich persönlich interessiert besonders, wie bestimmte Gesangsmerkmale in den Genen festgelegt sind.
An welchen Projekten wird in der Hamburger Sammlung neben B10K noch gearbeitet?
Der Biodiversitätswandel spielt bei uns – wie am gesamten CeNak – eine große Rolle. Der spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen ab: Dass der Haussperling in Hamburg auf dem Rückzug ist, hat sich herumgesprochen. Aber was das zum Beispiel auf genetischer Ebene für Folgen hat, das wissen wir noch gar nicht. Auch Umweltmonitoring ist mit unseren Sammlungsbeständen möglich, da neben dem Vorkommen auch Giftstoffe wie Quecksilber nachgewiesen werden können, die sich in den Vögeln ablagern. Wir können also sagen, wie die Belastung mit diesen Stoffen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort war.
Die Einschränkungen der Corona-Pandemie haben wir genutzt, um unsere Bestandskataloge zu digitalisieren. So bekommen wir erstmals einen umfassenden Überblick darüber, welches Material wir in der Sammlung haben. Insgesamt besitzen wir 71.000 Objekte von mehr als 3.500 Vogelarten aus aller Welt.
Die Ornithologische Sammlung des Centrums für Naturkunde
Die Sammlung geht auf das 19. Jahrhundert zurück und enthält neben zahlreichen inzwischen ausgestorbenen Arten unter anderem eine Sammlung von mehr als 1000 Elstern. Dr. Dieter Thomas Tietze leitet die Abteilung seit November 2019 und arbeitet bereits seit 2015 an dem „Bird 10,000 Genomes (B10K)“-Projekt. Die aktuelle Nature-Publikation ist online verfügbar.