UHH Newsletter

Juni 2009, Nr. 3

INTERVIEW

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Prof. Dr. Armin Hatje in seinem Büro, Foto: Lukas Kilian



Prof. Dr. Armin Hatje

Universität Hamburg
Fakultät für Rechtswissenschaft
Europäisches Gemeinschaftsrecht
Schlüterstraße 28
20146 Hamburg

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Europa-Interview mit Prof. Dr. Armin Hatje

Am 7. Juni hat Europa gewählt. Lukas Kilian vom Jura-Magazin nahm die Wahl zum Anlass, sich mit dem Europarechtsexperten Prof. Dr. Armin Hatje zum Interview zu treffen.
Herr Prof. Dr. Hatje, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Warum sollte man Ihrer Meinung nach zur Europawahl gehen?

Weil das Europäische Parlament das einzig demokratisch legitimierte Organ auf europäischer Ebene ist, das einzig direkt legitimierte Organ und insofern die Volksvertretung in Europa.

Wie viel Einfluss hat das Europäische Parlament denn überhaupt?

Das Europäische Parlament hat deutlich mehr Einfluss als die meisten Menschen glauben. Es ist heute in der Mehrzahl der Gesetzgebungsverfahren gleichberechtigt beteiligt und kann die europäischen Gesetze stoppen, die es nicht haben möchte. Insofern hat das Europäische Parlament in der Gesetzgebung einen wichtigen Einfluss.

Entscheidend ist auch der Einfluss des Parlaments auf die Wahl des Kommissionspräsidenten, den man sicherlich juristisch nicht ganz korrekt, aber in der Funktion vergleichbar als den europäischen Regierungschef ansehen kann. Hier ist das Parlament beteiligt, wenn dieser europäische Kommissionspräsident und seine Kommission eingesetzt werden.

Was begeistert Sie an der Europäischen Union?

Mich begeistert der Versuch eines Kontinents, der, wie die Präambel des EGKS-Vertrages es plastisch beschreibt, über Jahrhunderte in blutigen Kriegen entzweit war – der großartige Leistungen, aber auch schreckliches Leid gesehen hat –dass dieser Kontinent es geschafft hat, friedlich über Schützengräben hinweg seine Zukunft zu ordnen, einen der stärksten Wirtschaftsräume der Welt zu schaffen, individuelle Freiheit zu sichern und Europa in der Welt zu einem handlungsfähigen Akteur zu machen.

Sehen Sie auch Nachteile?

Ein Problem der Europäischen Union ist die Rückbindung ihrer Entscheidungen an den Bürger. Das ist letztlich ein Problem ihrer demokratischen Legitimation im Sinne des Einflusses der Bürger auf die EU. Die EU ist eine weitere Ebene über den Mitgliedstaaten, in denen sich wiederum weitere Ebenen befinden. Wie etwa in Deutschland: Länder, Bund und dann noch die Europäische Union, in denen sich demokratische Verantwortung – und darum geht es im Kern der Demokratie, Verantwortung von Amtsträgern gegenüber den Bürgern – tendenziell verflüchtigt.

Die EU ist eine Organisation, die auf der einen Seite eine große Machtfülle hat, man kann auch sagen: Herrschaft ausübt, nicht mit einer negativen Konnotation, sondern schlicht verbindliche Entscheidungen trifft, aber auf der anderen Seite haben deren Repräsentanten gegenüber dem Bürger keine unmittelbare personale Verantwortung mehr.

Und zudem ist die EU eine Organisation, die es Mitgliedstaaten erlaubt, Entscheidungen, die sie innerstaatlich nicht durchsetzen können, in Verhandlungen in teilweise eben nicht öffentlichen Gremien wie dem Ministerrat doch noch zu treffen. Jüngstes Beispiel: Das Verbot bestimmter Arten von Glühbirnen. Es wurde erfolglos in Deutschland diskutiert, es gab massiven Widerstand – aber es wurde dann im so genannten Kommitologieverfahren auf europäischer Ebene ohne ausdrückliche Beteiligung des Parlaments in nicht öffentlicher Sitzung letztlich beschlossen. Da sehe ich ein Problem.

Staatsrechtlich hat die EU – so unser Bundesverfassungsgericht in seiner letzten großen Entscheidung zum Maastricht-Vertrag – sicherlich die ausreichende demokratische Legitimation, aber das ist im Grunde genommen eine etwas blutleere Sicht auf das Problem. In der Sache dominiert glaube ich bei vielen Menschen das Gefühl, dass sie der Europäischen Union mehr oder weniger einflusslos ausgeliefert sind. Dieses, glaube ich, kann man dadurch ändern, dass man das Europäische Parlament in stärkere politische Verantwortung setzt und damit ein Organ stärkt, das die unmittelbare Rückkopplung an das Volk hat.

Und im Gegenzug den Ministerrat auch…

… in seinen Rechten einschränkt.

In Europa läuft nicht alles reibungslos. Man sieht dies zum Beispiel am Vertrag von Lissabon: Die Iren haben Nein gesagt, das tschechische Parlament stimmte dafür, aber der tschechische Präsident Klaus macht seine Unterschrift abhängig von den Iren und der auch noch ausstehenden Entscheidung unseres Bundesverfassungsgerichtes. Wie stehen die Chancen für den Lissabon-Vertrag?

Die Chancen sehe ich bei 50 zu 50. Wollen wir erst mal die Kandidaten nennen, an denen es aus meiner Sicht nicht scheitert.

Es wird nicht am Bundesverfassungsgericht scheitern. Das Bundesverfassungsgericht wird in seinem Urteil sicherlich gewisse Grundlinien zeichnen, die weitere Vertragsreformen begrenzen. Ich wäre auch nicht überrascht, wenn es insbesondere das Thema Demokratie ist, das hier eine Rolle spielt.

Die tschechische Republik hat alle innerstaatlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Präsident ratifizieren kann. Ich bin kein Kenner des tschechischen Verfassungsrechts, aber ich nehme mal an, dass die Funktion des Präsidenten die ist, dass er dann auch letztlich ratifizieren muss, sodass er nur über den Zeitpunkt disponiert, aber nicht über das Ob.

Irland, da tue ich mich nun außerordentlich schwer, Prognosen abzugeben – auch die Signale von irischen Freunden und Kollegen sind eher diffus. Das halte ich also für immer noch nicht ausgemacht, dass die irische Bevölkerung zustimmt. Möglicherweise sind die geänderten Verhältnisse unter der Wirtschafts- und Finanzkrise ein Grund für Irland, sich enger in Europa einzubinden, weil dahinter die Erfahrung steckt, dass die erstmalige Einbindung, nämlich die Mitgliedschaft Irlands, letztlich für dessen Wirtschaftsaufschwung gesorgt hat. Aber das ist rein spekulativ, also 50 zu 50 die Chance, dabei bleibe ich auch nach allem, was man heute weiß.

Braucht die EU denn den Lissabon-Vertrag?

Das kommt darauf an, was Sie unter brauchen verstehen. Wenn Sie unter brauchen verstehen, dass sie ohne den Vertrag von Lissabon nicht weiter existieren kann, dann lautet die Antwort: Nein, dafür braucht sie ihn nicht. Der Vertrag von Nizza, mit dem wir jetzt arbeiten, ist nach meiner Auffassung besser als sein Ruf. Er enthält viele Weichenstellungen und Entscheidungsmöglichkeiten, die Erweiterungen im Sinne des neuen Vertragswerks erlauben.

Nur ein Beispiel: Der Vertrag von Nizza sieht schon vor, dass die Europäische Kommission verkleinert wird, also man kann es schon auf der Basis des jetzigen Vertrages machen. Was der Vertrag von Nizza aber nicht regelt, sind Inkonsequenzen und Unübersichtlichkeiten in den Zuständigkeitsvorschriften.

Was der Vertrag von Nizza noch enthält, ist die mittlerweile von allen als zweckfremde und zweckwidrig erkannte Aufgliederung von politischen Materien in Säulen – also einmal europäische Gemeinschaft, dann Außen- und Sicherheitspolitik sowie polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen.

Das ist eine Trennung, die heute zu merkwürdigen Ergebnissen führt. In der politischen Praxis, in der institutionellen Praxis, also schon von der Handhabung der Vertragsgrundlagen wäre Nizza nicht optimal, aber wie gesagt – die EU würde weiter funktionieren, da muss man sich auch nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Wir brauchen Lissabon, um erstens das politische Signal zu haben, dass die EU noch zu einer Gemeinschaftsleistung fähig ist. Zweitens, um die EU als eine einheitliche völkerrechtliche Handlungseinheit zu etablieren, die sie heute noch nicht ist. Und drittens um eine ganze Reihe von Reformen umzusetzen, also Veränderungen vorzunehmen, die in der Summe einer erweiterten Union mehr Handlungsmöglichkeiten bieten, aber auch dem Bürger mehr Schutz vor etwaigen Handlungsüberschüssen des europäischen Gebildes bieten.

Vielen Dank für die Einschätzung und das Gespräch.


Es handelt sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Interviews im Jura Magazin.

 
 
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