RechtsanthropologieAlles, was Recht ist – Normative Konflikte und wie sie entstehenSerie Forschen und Verstehen
17. Juli 2025, von Anna Priebe

Foto: UHH/Bens
Viele rechtliche Fragen sind in unterschiedlichen Gesellschaften verschieden geregelt, zum Beispiel die Frage nach dem Eigentum. Welche Konflikte daraus entstehen, untersucht Prof. Dr. Jonas Bens, Heisenberg-Professor für Ethnologie am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Hamburg.
Sie sind Jurist und Ethnologe. Wie bringen Sie in Ihrer Forschung diese beiden Felder zusammen?
Wenn man Jura studiert, bekommt man schnell heraus, dass Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten die Dinge mitunter ganz verschieden regeln. Zu dem, was für Menschen richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist, gibt es also immer Alternativen. Über diese Diversität rechtlicher Formen forscht die Rechtsanthropologie.
In den vergangenen 500 Jahren hat ein globaler Prozess stattgefunden, bei dem sich durch den Kolonialismus ein ganz bestimmtes europäisch geprägtes Rechtsregime überall auf der Welt verbreitet hat, das wir ‚das moderne Recht‘ nennen. Diese Vorstellungen, etwa zum kapitalistischen Eigentumsrecht, kollidieren bis heute mit alternativen rechtlichen Vorstellungen, zum Beispiel indigenen Rechtsordnungen. Die daraus entstehenden Konflikte stehen im Fokus meiner Arbeit.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In einem aktuellen Projekt forsche ich zu Eigentumskonflikten in Bezug auf ethnologische Sammlungen in Museen. Diese sind während der Kolonialzeit oft unter gewaltvollen Bedingungen in die europäischen Museen gekommen. Nun geht es darum, ob diese Objekte den Museen heute noch gehören oder ob – und auch wie – man sie zurückgeben muss.
Das klingt wie eine klare rechtliche Frage, aber es ist komplizierter. Im nördlichen Tansania hat Deutschland als Kolonialmacht viele Sammlungsgegenstände gewaltsam geplündert. Indigene Maasai-Gemeinschaften verstehen diese aber oft gar nicht als Objekte, die man besitzen kann oder darf. Unsere Forschung zeigt vielmehr, dass die Gegenstände – etwa Waffen, Armreifen, Textilien oder Tabakcontainer — als Teile des menschlichen Körpers verstanden werden.
Solche grundlegend unterschiedlichen Verständnisse sind gar nicht so ungewöhnlich. In indigenen Gemeinschaften in Amazonien etwa werden solche Sammlungsgegenstände als Verwandtschaftsmitglieder oder Ahnen gesehen, also als nicht-menschliche Akteur:innen mit eigener Handlungsmacht. Eigentum soll aus diesen Perspektiven gar nicht der rechtliche Rahmen für eine Diskussion sein. Und über Eigentum zu sprechen, kann selbst als eine Form von kolonialer Gewalt verstanden werden, wenn Museen anfangen, mit diesen indigenen Herkunftsgemeinschaften über Restitution zu sprechen.
Welche Methoden nutzen Sie für Ihre Forschung?
Manche Rechtsordnungen, zum Beispiel das moderne staatliche Recht, sind in Gesetzbüchern festgehalten – auch, wenn wir wissen, dass Dinge in der Praxis nicht immer so umgesetzt werden, wie es auf dem Papier vorgesehen ist. In anderen normativen Systemen sind andere, zum Beispiel mündliche Formen wichtiger. Das erfordert auch andere Forschungsmethoden. Um Konflikte zwischen diesen Systemen zu erforschen, macht man ethnographische Beobachtungen und führt intensive Gespräche im direkten Kontakt mit Menschen. Parallel muss man zum Verständnis natürlich die Geschichte dieser Konflikte untersuchen und Wissen über die politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen zusammentragen.
Was bedeutet Ihre Forschung für die konkreten Konflikte?
In der Rechtsanthropologie geht es nicht nur darum, Menschen dabei zu helfen, bestimmte einzelne Konflikte zu lösen. Vielmehr wollen wir darüber hinaus verstehen und kritisch analysieren, wie Konflikte überhaupt funktionieren. Wenn man sich bewusst macht, dass immer mehrere, konkurrierende normative Rahmen eine Rolle spielen, entwickelt man ein Verständnis für die Komplexität dieser Fragen und kann das bei der Lösungsfindung berücksichtigen.
Indem wir etwas über andere lernen, lernen wir auch etwas über uns selbst
Die Forschung blickt also nicht nur in andere Länder?
Nein, wir wollen herausfinden, was Menschen, Kulturen und Gesellschaften unterscheidet, aber auch, was sie gemeinsam haben. Dazu schauen wir über die Gesellschaften hinaus, in denen wir selbst aufgewachsen sind. Indem wir etwas über andere lernen, lernen wir auch etwas über uns selbst – und etwas darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
In Deutschland haben wir andauernd Konflikte darüber, welche normativen Rahmen eigentlich gelten sollen. Denken Sie zum Beispiel an die teils ganz heftigen Debatten über Geschlecht und Sexualität. Bei Konflikten wie diesen stehen grundlegende normative Wertungen im Raum. Gibt es nur Männer und Frauen oder auch noch andere Geschlechter? Als Ethnolog:innen wissen wir, dass Gesellschaften diese Fragen immer ganz unterschiedlich beantwortet haben.
Das zeigt sich auch bei Themen wie Migration. Dürfen Menschen frei entscheiden, wo sie sich aufhalten wollen oder muss man sie gewaltsam dazu bringen, irgendwo zu bleiben oder irgendwo wegzugehen? Im modernen Recht gibt dazu mit festen Staatsgrenzen und Staatsangehörigkeiten bestimmte Regeln, die viel mit den Logiken des Kolonialismus zu tun haben, aber diese Regeln sind keineswegs menschlich universal. Als Rechtsanthropologe würde ich immer argumentieren: Wenn wir uns fragen, wie wir unsere Konflikte menschlich lösen können, müssen wir alle Menschen in den Blick nehmen und fragen: Nützen diese Regeln nur wenigen mächtigen und reichen Menschen, oder schützen sie auch Menschen mit weniger Macht und Geld?
Für viele dieser Fragen gibt es sogar transnationale Gerichtssysteme, die das einheitlich regeln wollen.
In einem vorherigen Forschungsprojekt habe ich mich mit dem Internationalen Strafgerichtshof beschäftigt. Hier sollen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt und bestraft werden, wenn es die nationalen Gerichte nicht tun. Diese große Rechtsordnung gerät regelmäßig in Konflikt mit nationalen oder lokalen normativen Ordnungen. Mich interessieren die Spannungen, die das hervorbringt, und welche Rolle Emotionen dabei spielen.
Was hat sich in dieser Untersuchung gezeigt?
Das internationale Strafrecht ist immer auch ein politisches Thema und wird vor allem in Afrika durchaus als Form des Kolonialismus wahrgenommen. Viele haben dort das Gefühl, dass die Europäer:innen so weiter Konflikte nach ihren Regeln lösen wollen. Gleichzeitig wenden sich gerade marginalisierte Menschen, die sich von ihrem staatlichen Recht übergangen fühlen, oft an diese übergeordneten Rechtsordnungen, etwa den Europäischen und den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschrechte oder den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Das führt dann wiederum dazu, dass viele Regierungen die internationalen Rechtsordnungen ablehnen. Das ist eine der spannendsten Fragen: Wird es das internationale Recht, wie wir es heute kennen, inklusive der Menschenrechte und des Völkerrechts, zukünftig noch geben oder erodiert es? Das ist genau der Moment, wo der Konflikt zwischen den normativen Ordnungen sichtbar wird.
Was kann Ihre Forschung zur Antwort auf diese Frage beitragen?
Eine rechtskritische Perspektive. Oft hat das moderne Recht, besonders in seiner liberalen Variante, einen Universalitätsanspruch, also: So und nicht anders muss man das machen. Alle anderen Formen werden dann als ‚vormodern‘ abgelehnt. Die Idee der Rechtsanthropologie ist da eher, auch moderne Systeme zu kritisieren. Diese wichtige Perspektive können wir in aktuelle Diskussionen einbringen, denn Rechtsanthropolog:innen sind es gewohnt, das moderne Recht nicht als selbstverständlich, sondern als Teil einer größeren Gemengelage anzusehen. Das wird besonders spannend, wenn sich autoritäre Bewegungen gegen liberale Rechtsordnungen wenden, wie wir das gegenwärtig erleben. Dann wird es umso wichtiger, dass wir genau analysieren, was hier vorgeht und aus ganz breiter Perspektive die Frage stellen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben und welche Regeln wollen wir uns setzen?
Zur Person
Prof. Dr. Jonas Bens studierte im Magister Ethnologie und Evangelische Theologie sowie Rechtswissenschaften im Staatsexamen. Er wurde 2015 promoviert und 2021 habilitiert. Nach Stationen an der Universität Bonn, University of Wisonsin-Madison und der FU Berlin hat er seit dem 1. Oktober 2024 eine Heisenberg-Professur für Ethnologie am Fachbereich Kulturwissenschaften inne.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.

