IMPAK-Studie zur Teilhabe von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen„Ausschlaggebend sind nicht die Leitbilder, sondern die gelebten Strukturen im Alltag“Serie Forschen und Verstehen
14. Juli 2025, von Anna Priebe

Foto: UHH/Beck, privat
Verschiedene Gesetze fördern die Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung. Doch insbesondere bei Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen gelingt das kaum. Welche Bedingungen individuelle Handlungsspielräume ermöglichen können, haben Prof. Dr. Iris Beck und Prof. Dr. Daniel Franz in der IMPAK-Studie untersucht.
Im Mittelpunkt Ihrer Untersuchungen stand die Situation von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen. Was genau versteht man unter diesem Begriff?
Beck: Der Begriff ist weniger eindeutig, als es die Formulierung suggeriert. Dementsprechend werden auch noch andere Bezeichnungen verwendet, wie schwerste oder mehrfache Beeinträchtigung. Gesprochen wird aber auch von ‚Inklusionsverlierern‘ oder der ‚Gruppe, die man nicht sieht‘. Das Gemeinsame dieser Gruppe – und auch ein erstes zentrales Merkmal – ist, dass ihre Teilhabe in besonders hohem Maß erschwert ist und sie von Reformen wie der UN-Behindertenrechtskonvention nur wenig profitiert.
Ein zweites Merkmal ist eine umfängliche funktionale Einschränkung – etwa der Kognition, des Sehens oder der Motorik –, die sich mit weiteren Problemen verbindet, die aber nicht zwingend aus der primären Einschränkung hervorgehen. Das kann zum Beispiel das emotionale Erleben betreffen oder die Kommunikation. Betroffene haben drittens einen hohen Unterstützungsbedarf in grundlegenden Bereichen ihrer Lebensführung und es ist oft schwierig, passende Unterstützungssettings zu finden. Unser Ziel war es daher, ein umfassendes Bild von allen Bedingungen zu gewinnen, die die Umsetzung der Inklusions- und Teilhabeziele beeinflussen.
Es ging dabei um Wohnangebote und die Frage, wie sie Teilhabe ermöglichen. Ist das die Frage nach stationär oder ambulant?
Beck: Mit diesen Begriffen arbeiten wir gar nicht mehr. Es geht uns in erster Linie darum, dass jeder Bedarf an Unterstützung, unabhängig vom Etikett der Wohnform, erfüllt wird. Wenn diese 24 Stunden am Tag nötig ist, darf das nicht bedeuten, dass die Person nur an einem bestimmten Ort wohnen und Restriktionen erleben muss. Wir würden bei „stationär“ daher eher von einer institutionellen Orientierung sprechen, die die Chancen auf eine individuelle Lebensführung hochgradig einschränkt. Diese können Sie aber auch in einem Angebot finden, das sich „ambulant“ nennt.
Franz: Wir haben bei unseren zehn Untersuchungsstandorten vielmehr versucht, die Vielfalt der Bedarfe abzubilden und verschiedene Wohn- und Betreuungsformen aufzunehmen. Natürlich wollten wir auch das Bundesgebiet abbilden und haben sowohl städtische und ländliche Regionen als auch große und kleine Einrichtungen berücksichtigt.
Was war das Besondere an Ihrem Forschungsansatz?
Beck: Zuerst haben wir uns die empirische Forschungslage angeschaut, denn bisher gibt es kaum vertiefte Kenntnisse über die Lebenssituation von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen. Wir haben für unsere Studie den sogenannten Lebenslagenansatz nach Ingeborg Nansen gewählt. Hier liegt der Fokus auf den äußeren Bedingungen, die die Chancen des Einzelnen auf eine individuelle Lebensführung beeinflussen.
Franz: Unser Forschungsdesign umfasst dabei alle Ebenen, auf denen die Lebensbedingungen beeinflusst werden. Das geht los bei den Bundesländern, da in diesem Bereich viel föderal organisiert ist, zu den Leistungserbringern in den Kommunen über die Angebote bis zu den Mitarbeitenden und dem konkreten Alltag vor Ort. Wir mussten für jede Ebene das passende empirische Instrument finden und die Ergebnisse immer wieder gegeneinander abgleichen.
Welche Methoden haben Sie gewählt?
Franz: Auf der ersten Ebene haben wir neben eigenen Recherchen zu sozialrechtlichen Grundlagen Experteninterviews geführt. An den Standorten waren dann die ersten Schritte eine schriftliche Befragung sowie ergänzende Telefoninterviews zu den Strukturen und Prozessen vor Ort. Daran haben sich Befragungen der Mitarbeitenden angeschlossen.
Beck: Die Mitarbeitenden haben wir grundsätzlich nach ihrer Arbeitsbelastung gefragt – ergänzt um Fragen dazu, wie sie mit den besonderen Herausforderungen im Feld der komplexen Beeinträchtigungen umgehen. Das ist in der Breite bisher nicht gemacht worden.
Wie konnten die Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen einbezogen werden?
Franz: Da viele dieser Menschen nicht oder nur sehr eingeschränkt lautsprachlich kommunizieren können und deswegen von Befragungen oft ausgeschlossen sind, haben wir auf teilnehmende Beobachtungen zurückgegriffen. Wir haben von allen betroffenen Personen – oder gegebenenfalls der rechtlichen Betreuung – Einverständniserklärungen eingeholt und uns zusätzlich in der konkreten Situation vor Ort immer wieder abgesichert, dass die Beobachtung in Ordnung ist. Wenn sich eine Person sichtlich unwohl gefühlt hat, haben wir abgebrochen und verschoben.
Das Leistungssystem muss sich bestmöglich den Menschen anpassen
Haben Sie mit Ihren Ergebnissen den optimalen Weg zur Teilhabe für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen identifizieren können?
Beck: Teilhabe ist ja kein Zweck an sich und es nimmt niemand überall und an allem teil. Vielmehr geht es um den Zugang zu Lebensbereichen und Ressourcen, um eine individuelle Lebensführung verwirklichen zu können. Hier konnten wir von der Makroebene der Bundesländer bis zum Alltagshandeln Bedingungen identifizieren, die Handlungsspielräume dafür öffnen oder begrenzen.
Franz: Ich glaube, die Idee, es gäbe nur eine Lösung für das Problem, ist falsch. Schon auf der Ebene der Bundesländer zeigen sich Stellschrauben, die den Unterschied ausmachen. Das geht los bei der Gesamterhebung und -planung der Bedarfe, die von den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird und unter wissenschaftlichen Aspekten standardisiert werden müsste. Da ist es auch entscheidend, nicht zu sagen, der Mensch mit seinen komplexen Beeinträchtigungen passe mit seinem Bedarf nicht ins System. Vielmehr muss sich das Leistungssystem bestmöglich den Menschen anpassen.
Wo das gelingt, sind Sozialdezernate und/oder Pflegekassen bereit, ein Modellprojekt zu finanzieren, um zu schauen, ob man etwas anders machen kann. Oder es wird der sozialrechtlich vorhandene Spielraum ausgenutzt, der in Begriffen wie „angemessen“ oder „zumutbar“ steckt, und die eine oder andere Regel nicht so scharf angewendet. Wenn dann auch die Einrichtungen, die die Leistungen erbringen, den Mut haben, etwas auszuprobieren, ergeben sich Chancen und positive Effekte.
Den Mitarbeitenden vor Ort kommt eine besondere Bedeutung zu. Wo kann man hier ansetzen?
Beck: Hier haben wir es mit verschiedenen Spannungsfeldern zu tun: Auf der einen Seite steht in den Leitbildern und Fachbüchern, dass man die Bedürfnisse des Einzelnen fördern soll. Auf der anderen Seite betreuen die Mitarbeitenden immer eine Gruppe. Sie sollen also flexibel sein und individualisierte Unterstützung leisten, aber gleichzeitig feste Strukturen und Abläufe für alle ermöglichen.
Wir konnten auf Basis unserer Daten statistisch nachweisen, dass die Qualifikation der Mitarbeitenden einen signifikanten Unterschied macht, wenn es darum geht, den Personen mit komplexen Beeinträchtigungen in diesem Spannungsfeld Teilhabechancen zu eröffnen. Aber auch das Rollenverständnis der Mitarbeitenden ist entscheidend. Viele Mitarbeitende haben allerdings das Gefühl, dass sie wichtigen Aufgaben gar nicht nachkommen können, und ein gar nicht geringer Teil der Mitarbeitenden hat gar keinen Gestaltungsspielraum, um die Anforderungen in Gänze bewältigen zu können.
Hier sind die Einrichtungen gefragt, ihre Strukturen zu verändern, oder?
Beck: Ja, denn diese Bedingungen – zum Beispiel Leitungs-, Kooperations- und Kommunikationsstrukturen oder ausreichend qualifiziertes Personal – haben einen ganz großen Einfluss darauf, wie die Mitarbeitenden ihre Arbeit gestalten können. Das betrifft auch die Räumlichkeiten. Es macht einen riesigen Unterschied, wie groß eine Wohngruppe ist, wie viele Menschen dort leben und wie die Räumlichkeiten gestaltet sind. Wir leiten aus unseren Ergebnissen ab, dass bestimmte Formen von Gruppensettings ein Ende finden müssen. Das gilt zum Beispiel für Einrichtungen mit sehr großen Gruppen, die mit vielen strukturellen Zwängen einhergehen, da die Mitarbeitenden dort die Balance zwischen der Betreuung einer Gruppe und der Förderung des oder der Einzelnen nicht leisten können.
Franz: Eine entscheidende Stellschraube auf allen Ebenen ist aus unserer Sicht auch, wie hierarchisch die Organisationen aufgebaut sind. Muss ich für jede Entscheidung, die ich treffen möchte, erst drei Stufen nach oben gehen? Oder habe ich eigene Entscheidungsspielräume? Dazu gehören Strukturen genauso wie das Angebot von Fortbildungen, um fachliche Impulse zu ermöglichen.
Beck: Die Standorte, die es besser machen, sorgen dafür, dass es durch strukturelle Maßnahmen einen Transfer von Konzepten ins praktische Handeln gibt. Auf der persönlichen Ebene wird zudem verstärkt anerkannt, dass das Handeln der Mitarbeitenden eine direkte Auswirkung auf das Wohlbefinden, die Integrität und die Lebensführung der betroffenen Menschen hat – und dass sich das Wohlbefinden beider Gruppen ganz eng miteinander verbindet. Letztendlich sind nicht die Leitbilder ausschlaggebend, die irgendwo auf der Homepage stehen, sondern das, was an Routinen und Strukturen im Alltag gelebt wird. Hier sehen wir starke positive, aber auch negative Zusammenhänge für die Teilhabe.
Wie kommen Ihre Ergebnisse in die Praxis?
Beck: Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und da gibt es zu den Ergebnissen einen engen Austausch. Zudem sind wir in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten tätig, sodass die Ergebnisse in die Teilhabeberichterstattung oder in die Begleitung des Bundesteilhabegesetzes einfließen. Wir beraten auch direkt Einrichtungen und Behörden, die sich diesem Wandlungsprozess stellen. Darüber hinaus bereiten wir Buchbeiträge vor sowie Inhalte für die Internetplattform „Qualitätsoffensive Teilhabe“. Sie richtet sich mit Tutorials, Texten und Interviews dezidiert an Mitarbeitende aus der Praxis.
Das Projekt
Das Projekt „IMPAK: Implementation von Partizipation und Inklusion für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen – Determinanten für Handlungsspielräume und bedarfsgerechte Unterstützungssettings“ wurde von 2017 bis 2021 an der Universität Hamburg durchgeführt und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert. Geleitet wurde die Forschung von Prof. Dr. Iris Beck, Professorin für Allgemeine Grundlagen und Soziologie bei Behinderung an der Universität Hamburg, und Prof. Dr. Daniel Franz, Professor für gesundheitsbezogene Soziale Arbeit an der MSH Medicalschool Hamburg. Im April 2025 ist der Abschlussbericht des Projektes im Kohlhammer Verlag erschienen.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.

