Dinosaurierforschung„Die Untersuchung von Dinosaurierskeletten gleicht einem Puzzle“
19. Juli 2021, von Niklas Keller
Wie viele Langhalsdinosaurier-Arten haben vor 145 Millionen Jahren tatsächlich in Nordamerika gelebt? Paläontologe Dr. Emanuel Tschopp hat sich mit zwei Kollegen auf die Spuren der Pflanzenfresser begeben. Im Interview spricht Tschopp auch über die Dinosaurier, die er für die Uni Hamburg in Kooperation mit der Stiftung Hagenbeck untersucht.
Vor 145 Millionen Jahren haben offensichtlich mehr Arten von Langhalsdinosauriern in Nordamerika gelebt als bisher gedacht. Wie sind Sie bei Ihrer neuen Studie vorgegangen?
Bisher war bekannt, dass vor 145 Millionen Jahren 24 Arten von Langhalsdinosauriern im Gebiet des heutigen Nordamerika gelebt haben – darunter die bekannten Arten Brontosaurus excelsus, Brachiosaurus altithorax und Diplodocus carnegii. Es wurden aber auch Skelette von selteneren Dinosauriern gefunden. Von einem – dem Amphicoelias altus – wurden nur vier von insgesamt über 200 Knochen entdeckt. Da jedoch schwer vorstellbar ist, dass 24 dieser riesigen Saurier zeitgleich gelebt haben, wurde vermutet, dass diese Knochen falsch identifiziert wurden und eigentlich einem bekannteren Dinosaurier zugeordnet werden müssten.
Durch technische Fortschritte konnten wir nachweisen, dass die Knochen tatsächlich zu einer eigenen Gattung gehören. Allerdings haben die Langhalsdinosaurier vermutlich nicht alle zeitgleich gelebt, sondern verteilt über einen Zeitraum von fast zehn Millionen Jahren und an unterschiedlichen Orten. Maximal fünf oder sechs verschiedene Arten haben Nordamerika wohl gleichzeitig bevölkert.
Wie helfen diese Erkenntnisse der Wissenschaft weiter?
Das Ökosystem in Nordamerika vor 145 Millionen Jahren ist ziemlich einzigartig. Die schiere Anzahl von riesigen Pflanzenfressern und deren Diversität waren ungleich höher als alles, was wir heute kennen. Dieses ausgestorbene Ökosystem zeigt uns, was in der Natur alles möglich ist. Um Rückschlüsse auf die Funktionsweise ziehen zu können, müssen wir wissen, welche Arten zu welcher Zeit und an welchem Ort gelebt und miteinander interagiert haben. Auf diesem Wissen können wir aufbauen und erforschen, warum diese Diversität vor 145 Millionen Jahren möglich war. Vielleicht lassen sich sogar Rückschlüsse darauf ziehen, was wir heute machen müssen, um ähnliche diverse Ökosysteme zu ermöglichen und zu erhalten.
Alles, was wir über Dinosaurier wissen, wissen wir durch gefundenen Skelette. Wie erkennen Forschende eigentlich, wo sie graben müssen?
Es gibt zwei verschiedene Möglichkeiten. Entweder man gräbt an Orten, an denen bereits viele Skelette gefunden wurden. Oder man nähert sich einem möglichen Fundort, indem man über geologische Karten und Satellitenbilder Gesteinsschichten sucht, die für die Studie geeignet scheinen. Vor Ort geht man auf Erkundungstour, sucht den Boden ab und entscheidet, wo die Suche am vielversprechendsten ist. An Hügeln rollen zum Beispiel häufig Knochenteile herunter. Vor allem braucht man aber eines: eine gehörige Portion Glück.
Wie fühlt es sich an, wenn man bei einer Ausgrabung auf Dinosaurierknochen stößt?
Es ist wirklich toll, bei einer Ausgrabung fündig zu werden. Bisher war ich allerdings sehr verwöhnt: Bei meiner ersten Ausgrabung für ein Schweizer Museum war ich im zweiten Team der Grabungssaison eingeteilt. Als ich ankam, lag dort bereits ein halbes Skelett an der Oberfläche. Ein weiteres, praktisch vollständiges Skelett kam dann darunter noch zum Vorschein. So etwas passiert einem normalerweise nur einmal im Leben.
Generell macht es mir viel Freude mit einem engagierten Team an der frischen Luft zu arbeiten. Der größte Teil der Arbeit folgt dann aber erst im Anschluss, wenn die Knochen im Labor vom Gestein befreit und untersucht werden.
Bereits ausgegraben und im Labor sind die sogenannten „Hamburger Dinosaurier“, eine Gruppe von vier Tieren, die Sie seit 2020 erforschen. Was zeichnet die Gruppe aus?
Die Dinosaurier der Gruppe Flagellicaudata wurden 2009 in Wyoming in der Morrison Formation gefunden – eine Serie von Sedimentgesteinen des späten Jura in Nordamerika. Es handelt sich um eine einzigartige Sammlung, denn die Dinosaurier sind unterschiedlich groß. Der kleinste Dinosaurier ist etwa 4,5 Meter, der größte 15 Meter lang. Außerdem sind Teile der Schädel aller Skelette erhalten.
Wie bestimmen Sie das Alter und das Geschlecht der Hamburger Dinosaurier?
Die momentan beste Vorgehensweise ist das Aufschneiden des Oberschenkel- oder Oberarmknochens oder der Rippen, um Wachstumslinien zu erkennen. Hierfür gibt es bereits zahlreiche Vergleichsstudien. Mithilfe einer Computertomografie ist es eventuell bald möglich, die Wachstumslinien in den Knochen digital zu betrachten. Der Vorteil ist, dass die wertvollen Knochen so nicht beschädigt werden.
Der Nachweis des Geschlechts ist bei Langhalssauriern bisher nicht möglich, denn es gibt keine Vergleichsdaten. Bei Raubsauriern ist das anders, da der Knochentyp denen von Vögeln ähnelt, sodass man Geschlechtsunterschiede ableiten kann. Bei schwangeren Vögeln wird zum Beispiel ein spezieller Knochentyp produziert, um Kalzium zu speichern. Dieser Knochentyp wurde auch schon bei Raubsauriern gefunden, womit das Geschlecht bestimmt wurde. Bei Langhalssauriern wissen wir leider noch nicht, ob dieses Verfahren funktioniert – auch weil dieser Knochentyp noch nirgends entdeckt wurde.
Im Rahmen des Projekts ist eine Reise nach Wyoming in den USA vorgesehen. Was haben Sie dort vor?
Ursprünglich wollten wir bereits 2020 an den Fundort reisen, um dort weitere Daten und Gesteinsproben zu sammeln. Aufgrund der Corona-Pandemie planen wir nun für 2022 einen Trip in die USA.
Im Prinzip lässt sich unsere Arbeit mit einem Puzzle vergleichen. Wir wollen vor Ort weitere Teile finden. Konkret wollen wir unter anderem Pollen in Gesteinsproben aufspüren und nach anderen Pflanzenspuren suchen. An den erhaltenen Zähnen unserer Sauropoden können wir dann Abnutzungserscheinungen untersuchen und mit den vor Ort gesammelten Pflanzenproben abgleichen. So können wir sehen, welche Pflanzen gefressen wurden, ob alle Dinosaurier die gleiche Nahrung zu sich genommen haben und ob sich die Ernährung der Dinosaurier mit der Zeit verändert hat.
Hamburger Dinosaurier
Die Stiftung Hagenbeck erwarb Anfang 2020 vier Dinosaurier, die 2009 in Wyoming in der Morrison Formation gefunden wurden. Um neue Erkenntnisse über die Dinosaurier zu sammeln, untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hamburg die Knochen der Pflanzenfresser. In einigen Jahren sollen die Skelette mit ergänzenden Informationen für Besucherinnen und Besucher ausgestellt werden.
Originalpublikation
Philip D. Mannion, Emanuel Tschopp and John A. Whitlock (2021): Anatomy and systematics of the diplodocoid Amphicoelias altus supports high sauropod dinosaur diversity in the Upper Jurassic Morrison Formation of the USAR. Soc. open sci.8210377210377. Veröffentlicht in Royal Society Open Science. https://doi.org/10.1098/rsos.210377