Mithilfe von grünen Zonen aus der Corona-Krise„Wir wollen, dass ein Ruck durch die Gesellschaft geht“
20. Januar 2021, von Niklas Keller
Foto: privat
13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schlagen in ihrem No-Covid-Strategiepapier ein neues Modell als potenzielle Lösung zur Corona-Bekämpfung vor. Prof. Dr. Elvira Rosert, Juniorprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, ist Expertin für Internationale Beziehungen und wirkte an dem Papier mit.
Wie ist es zu dem Strategiepapier No-Covid und zu Ihrer Beteiligung gekommen?
Als sich im Herbst vergangenen Jahres abzeichnete, dass die Pandemie-Lage wieder schlimmer wird, hat Physiker Matthias Schneider, von der TU Dortmund, Kontakt zu Yaneer Bar-Yam, einem US-amerikanischen Forscher aufgenommen. Die beiden haben angefangen, eine andere, neue Strategie für Deutschland zu entwickeln. Mit der Zeit haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengefunden, die das Konzept einleuchtend fanden und mit in die Öffentlichkeit tragen wollten.
Ich hatte bereits im März 2020 meine Gedanken zum Pandemiegeschehen auf Twitter geteilt und mir ein ähnliches Konzept überlegt; später habe ich darauf aufbauend Vorschläge zu Grenzöffnungen in einem Artikel veröffentlicht. Auf diese Weise ist es zu meiner Beteiligung am Strategiepapier gekommen. Man kann sagen, dass verschiedene Personen an verschiedenen Orten eine ähnliche Idee entwickelten und es so zu einem Zusammenschluss gekommen ist.
Im Papier wird ein Grüne Zone-Modell gefordert. Sie haben bereits im Frühjahr 2020 die sogenannte Honeycomb-Strategie vorgestellt. Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen?
Im März 2020, drei Tage, nachdem die Schulen geschlossen worden waren, habe ich mich gefragt, wie wir eigentlich wieder aus der Pandemie herauskommen wollen. Die Situation war so dramatisch, dass ich über nichts Anderes nachdenken konnte. Ich habe die öffentliche Diskussion in Deutschland als ziemlich ziellos und aussichtlos wahrgenommen. Zum damaligen Zeitpunkt zeichnete sich bereits ab, dass wir vermutlich Zyklen von Lockerungen und erneuten Beschränkungen durchlaufen werden.
Ich habe für meine Familie den Entschluss gefasst, dass wir gemeinsam eine 14-tägige Quarantäne einhalten und danach unsere kleine Wabe erweitern. Daher kommt der Name Honeycomb-Strategie, Englisch für Bienenwabe. Meine Mutter und mein Bruder, die beide alleine leben, kamen nach ihrer jeweiligen Quarantäne dazu.
Wenn das funktioniert, kann man sich das auch für andere räumliche Bereiche vorstellen. Die Idee war: Sobald man sicher ist, dass niemand in einem bestimmten Raum mit Corona infiziert ist, kann man sich mit einer weiteren nicht-infizierten Einheit zusammenschließen. Und innerhalb dieser Einheiten kann man sich recht frei bewegen. Dieses Konzept wurde für das Strategiepapier quasi auf die staatliche Ebene übertragen. Hier heißt es Grüne Zone-Modell, wobei sich die Zonen, in denen es Lockerungen und Bewegungsfreiheit gibt, detailliert berechnen lassen.
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit die von Ihnen gesteckten Ziele erreicht werden können?
Wir haben vor allem das Ziel, einen Ruck durch die Gesellschaft gehen zu lassen. Wir nehmen die Pandemiemüdigkeit bereits seit einem halben Jahr wahr. Es wird vermutet, dass sich die Menschen auch deshalb nicht mehr konsequent an die Regeln halten.
Das einzige Licht am Horizont ist bisher die Impfung. Wir wissen aber alle, dass der Zeitraum zur Individualimpfung noch lang sein kann und diese Dauer noch länger erscheint, weil wir schon fast ein Jahr Pandemie hinter uns haben. Deswegen glauben wir, dass ein neues Ziel – die Null-Fälle-Strategie – Motivationsanstöße geben kann.
Daher schlagen wir auch vor, dass die Länge der Maßnahmen anhand der Inzidenz bestimmt werden muss und kein bestimmter Zeitraum verkündet werden sollte. Irgendwann ist das Datum erreicht und es ist wahnsinnig frustrierend, wenn sich doch nichts ändert. In Australien wurde die Erfahrung gemacht, dass die Inzidenz-orientierten Zielsetzungen die Bevölkerung bewogen haben, sich an die Regeln zu halten. Teilweise sind sogar Wettbewerbe zwischen Regionen entstanden, wer zuerst die Ziele erreicht.
Sie schreiben im Strategiepapier, dass die Schließung der innereuropäischen Grenzen nicht zwingend notwendig sei. Wie kommen Sie zu dem Schluss?
Häufig kommt der Einwand, dass es bisher nur Autokratien oder demokratisch regierte Inseln sind, die die Pandemie weitestgehend im Griff haben. Und das ist richtig. Davon leiten wir aber nicht ab, dass es für europäische Demokratien mit Landesgrenzen unmöglich ist.
Unsere Überlegung ist, dass die innereuropäischen Grenzen, die man offenhalten will, Teil der Lösung sind. Das ist der Anreiz, für den sich die Grüne Zonen-Strategie und das Ziel von null neuen Fällen für ganz Europa lohnen. Wenn sich die europäischen Staaten darauf einigen, dass sie diese Strategie verfolgen und die Maßnahmen miteinander abstimmen, besteht die Chance, dass die Grenzen auch langfristig offengehalten werden können.
Da die Inzidenzen in vielen europäischen Ländern momentan sehr hoch sind, hätten Grenzschließungen in der derzeitigen Lage quasi keinen positiven Effekt mehr, da die Infektionen inländisch stattfinden und die Eintragungen von außen keine große Bedeutung haben. Wenn die Inzidenzen soweit gedrückt sind, wie wir uns das vorstellen, würde das aber relevant werden – und daher ist die innereuropäische Abstimmung so wichtig.
Wie kann es gelingen, die europäischen Regierungen von dem Konzept zu überzeugen?
Es kann über die Politik gelingen, aber natürlich auch von unten nach oben, durch eine Bottom-up-Strategie. Wir sind im Kontakt mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Ländern und hoffen, dass dieses Konzept innerhalb der europäischen Länder an die Regierungen herangetragen wird. Auch wir haben es an die deutsche Regierung gespielt und hoffen, dass sie bereit ist, diese Perspektive mit den europäischen Partnern zu besprechen.
Wenn Deutschland und Frankreich dazu bereit sind, gibt es vielleicht andere Länder, die sich der Strategie anschließen. Frankreich hatte bereits im letzten Jahr ein ähnliches Modell, das allerdings wegen geringer Mobilitätseinschränkungen keine Wirkung zeigte. Um die Ziele einer ökonomischen Erholung, einer wachsenden Mobilität und eines steigenden innereuropäischen Tourismus zu erreichen, ist die Zusammenarbeit aller europäischen Länder notwendig.
Hintergrund des Interviews
Das Strategiepapier „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“, an dem Politikwissenschaftlerin Elvira Rosert mitwirkte, wurde am 18. Januar 2021 auf ZEIT Online veröffentlicht. In dem Papier fordern 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Einführung von „Grünen Zonen“. Das Konzept habe sich bereits in anderen Ländern bewährt, zum Beispiel in Australien und Neuseeland. Dahinter steckt die Idee, dass sich coronafreie Einheiten bilden und zusammenschließen, in denen die Corona-Maßnahmen reduziert werden können. Als Ziele werden die Vermeidung von Neuinfektionen, Todesfällen und bundesweiten Lockdowns angegeben. Voraussetzung für den Plan ist die Senkung der Inzidenz auf unter 10 pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Das Strategiepapier ist online als PDF abrufbar.