Nachhaltigkeitsberichte im Fokus: KI analysiert Themen und LieferkettenSerie Forschen und Verstehen
15. September 2025, von Newsroom-Redaktion

Foto: UHH/Cordes
Wenn Unternehmen über Nachhaltigkeit sprechen, tun sie das nicht nur fürs Marketing, sondern oft auch in standardisierter Form. Wie diese Berichte genutzt werden können, um mehr Transparenz zu Lieferketten zu schaffen, erforscht Hannes Cordes an der Professur für Logistik und Supply Chain Management von Prof. Dr. Guido Voigt.
Gemeinsam mit Ihrem Team erforschen Sie, wie man KI-Sprachmodelle im Zusammenhang mit nachhaltigen Lieferketten einsetzen kann. Worum genau geht es in Ihrem Projekt?
Wer etwas über die Nachhaltigkeit eines Unternehmens wissen möchte, kann in dessen Nachhaltigkeits- bzw. Geschäftsbericht nachschauen. Was aber, wenn wir uns nicht nur für ein Unternehmen, sondern auch für dessen Zulieferer interessieren? Und was ist mit den Zulieferern der Zulieferer? Schnell entstehen komplexe Netzwerke an Beziehungen mit einer scheinbar endlosen Flut an Informationen.
In unserem Forschungsprojekt, über das ich meine Dissertation verfasse, geht es darum, wie wir mit KI-basierten Methoden aus dem Bereich des Natural Language Processing (NLP), also dem computergestützten Verständnis menschlicher Sprache, diese Informationsflut durchleuchten und für die Forschung rund um nachhaltige Lieferketten nutzen können.
Wie wurden nachhaltige Lieferketten bisher analysiert?

Bisher wird für das Untersuchen komplexer Lieferketten bzw. -netzwerke häufig auf Unternehmensbewertungen von Drittanbietern zurückgegriffen. Diese sind teilweise intransparent und variieren stark zwischen den Anbietern. Eine Alternative dazu sind Interviews oder Umfragen in Zusammenarbeit mit Unternehmen. Diese können einen hohen Detailgrad an Informationen bringen, sind aber zeit- und kostenintensiv.
Hier setzt unsere Forschung an. Durch das Auswerten der Nachhaltigkeits- und Geschäftsberichte mittels NLP-Methoden können schnell, systematisch und skalierbar detaillierte Informationen gewonnen werden. Ziel ist es, ein Netzwerk zu modellieren, in dem wir transparent und vollumfänglich sehen können, was und wie über welche Nachhaltigkeitsthemen berichtet wird.
Welche Methoden nutzen Sie konkret?
Ich untersuche die Nachhaltigkeitsberichte vor allem mit dem sogenannten „Topic Modelling“, also einem themenbezogenen Clustering der Inhalte. Das funktioniert so, dass ein Sprachmodell – ein sogenanntes Large Language Model – die Textdaten in numerische Werte übersetzt. Diese Werte können in einen mehrdimensionalen Raum positioniert und die Entfernungen der Punkte zueinander gemessen werden. Das Ergebnis wird so präsentiert, dass es für einen Menschen interpretierbar ist. Das heißt, es ist dann für mich klar erkennbar, ob ein bestimmtes Thema, zum Beispiel CO2-Bilanzierung, im Bericht vorkommt. Dadurch lässt sich schnell ermitteln, „was“ berichtet wird.
Aber auch Algorithmen zur Klassifizierung werden von uns eingesetzt, beispielsweise um das positive, negative oder neutrale Sentiment einzelner Sätze zu bestimmen oder eine Einteilung in unterschiedliche Nachhaltigkeitsdimensionen (Umwelt, Soziales, Ethik) vorzunehmen. Dadurch ergibt sich ein besseres Bild, „wie“ berichtet wird. Bezüglich der Methodik haben wir dabei eng mit Prof. Dr. Anne Lauscher zusammengearbeitet. Als Professorin für Data Science an der Uni Hamburg hat sie uns mit ihrer Expertise im Bereich NLP weitergeholfen.
So haben Sie ja erstmal Daten für ein Unternehmen. Wie kommen Sie nun zu Informationen für die Lieferkette?
Dafür werden diese Ergebnisse als Datenpunkte in ein Netzwerk-Modell eingespeist. In diesem Modell sind die Unternehmen, die wir betrachten wollen, die Knotenpunkte. Ihre Geschäftsbeziehungen zueinander bestimmen die Verbindungen. Im Fokus kann eine Branche stehen, aber auch ein Unternehmen mit seinen Zulieferbetrieben und Kunden. Die Auswertung erfolgt dann als Social-Network-Analyse. Hierbei verstehen wir Unternehmen als soziale Organisationen, deren Handeln wir auf eine ähnliche Weise abbilden und untersuchen können wie menschliche soziale Strukturen.
So können zum Beispiel innerhalb eines Netzwerkes Gruppierungen von Unternehmen gefunden werden, welche bei bestimmten Themen eng zusammenarbeiten. Oder Brückenakteure, die selbst nicht viele Verbindungen haben, aber das Thema von einer zur nächsten Gruppe tragen. Oder kleine „Inseln“, welche isoliert vom weiteren Netzwerk ihre eigenen Themen voranbringen. Auch die zeitliche Komponente ist sehr interessant. Dadurch lässt sich dann die Verbreitung der einzelnen Nachhaltigkeitsthemen auf der Netzwerkebene nachvollziehen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Im schaue mir speziell Airlines an, die den Transport von Fracht für einen Logistikdienstleister als Kunden durchführen. Das ist an sich schon ein selten untersuchtes Szenario, da Logistikdienstleister in der Forschung nur selten in der Kundenrolle zu finden sind. Zudem werden Dienstleistungsunternehmen im Lieferkettenmanagement auch eher weniger berücksichtigt als produzierende Unternehmen. Dabei spielen sie eine wichtige Rolle als sekundäre Akteure, vor allem bei der Organisation von Lieferketten.
Anhand der Analyse konnte ich mir zum Beispiel anschauen, wie sie mit dem Thema synthetische Kraftstoffe, auch „Sustainable Aviation Fuels“ (SAF) genannt, umgehen. Diese sind ein essenzieller Baustein für die Dekarbonisierungsstrategie der Luftfahrt. Etwa zwei Drittel aller CO2-Emissionen der Branche sollen so langfristig eingespart werden. Auf Seiten der Airlines hat das Thema in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung hinzugewonnen. Allerdings bleibt es auf der Kundenseite, also bei den Logistikdienstleistern, in den Berichten weitestgehend unerwähnt.
Hier scheint es also so, als bestünde kundenseitig wenig Interesse an den Maßnahmen, die seitens der Dienstleister ergriffen werden. Dabei stehen die Emissionen von Lufttransporten auch bei der Logistik in den CO2-Bilanzen, nur eben an einer anderen Stelle. Von einer steigenden SAF-Adoption würden also auch sie profitieren. Im nächsten Schritt würde man dann schauen, was Treibstoff-Produzenten, Flughafenbetreiber, Flugzeugbauer und Versender anderer Branchen über dieses Thema berichten.
Wie kommen denn diese Erkenntnisse in die Praxis?
Ich präsentiere die Methoden und Ergebnisse auf Konferenzen und in Vorträgen. Vor allem bei Veranstaltungen in Hamburg kommt man dabei schnell mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Luftfahrt und Logistik in Kontakt, beispielsweise von Airbus oder der Lufthansa Technik.
Eine Tatsache, die dabei viel diskutiert wird, ist, dass die berichteten Aktivitäten natürlich nicht tatsächlichem Handeln entsprechen müssen. Es können beispielsweise Absichtserklärungen abgegeben werden, die später einfach fallengelassen oder verschoben werden. Auch das Thema Greenwashing kommt immer wieder auf. Das sind alles gute und berechtigte Fragen, die leider nicht im Rahmen meiner Arbeit liegen. Für mich sind diese Aspekte aber ein sehr guter Ausgangspunkt für die weitere Forschung. Sobald die Unternehmensperspektive einmal vollständig modelliert ist, kann diese mit einer Vielzahl an anderen Daten abgeglichen und bewertet werden. Beispielsweise mit Berichten aus der Presse oder von Umweltschutzorganisationen. Dann können genau diese Diskrepanzen gezielt aufgedeckt werden.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.

